Die Pandemie der Gefühlsabwehr
durch Schuldzuweisung
Gedanken zur aktuell grassierenden
Sündenbockpsychologie
von Alice Schultze-Kraft, Kleve,
24.11.2021
Erfüllt von
Fassungslosigkeit angesichts des zunehmenden Ausagierens innerer
Spaltungen und der daraus resultierenden Verfestigung von Spaltungen
in der Gesellschaft, fiel mir dieser Tage eine Schrift in die Hände,
die 1948 von Erich Neumann verfasst wurde: „Tiefenpsychologie und
neue Ethik“. Die Schrift entstand während und unter dem Eindruck
des zweiten Weltkriegs, also während einer Phase akuter kollektiver
Traumatisierung. In dieser beschäftigt sich der Schüler C.G. Jungs
u.a. eingehend mit dem Phänomen der Sündenbockpsychologie.
Ich war erstaunt
darüber, wie wenig der Inhalt dieser Schrift an Aktualität
eingebüßt hat. Ja mehr noch, ich möchte fast behaupten er ist
aktueller denn je.
Und ich finde darin
einige Parallelen zu meinen aktuellen Gedanken und Reflexionen
wieder, die ich im Folgenden ein wenig zu fassen und bündeln
versuche.
Seit Beginn der
zunehmenden Ausbreitung eines neuartigen Virus, das die Menschen mit
tiefsitzenden und größtenteils unbewussten Ängsten konfrontiert,
befindet sich die ganze Welt in einer andauernden Ausnahmesituation,
die den Einzelnen sowie die Kollektive massiv überfordert.
Per Definition
bedeutet dies, wir alle befinden uns in einer andauernden kollektiven
Traumatisierung!
Um eine solche
aushalten zu können, greifen die unterschiedlichsten
Traumaüberlebensstrategien. Diese reichen, basierend auf
intrapsychischen Spaltungen der Einzelnen, vom Leugnen realer Fakten,
über Schwarz-Weiß-Denken bis hin zur Suche nach Schuldigen.
Angst (auch
verdrängte) begrenzt bis verhindert dabei die Fähigkeit zum
Erfassen komplexer Zusammenhänge, schränkt das Wahrnehmungsfeld ein
und führt zu reduktionistischen Denk- und Betrachtungsweisen. Dies
geschieht auf einer zutiefst unbewussten Ebene.
So kann es
vorkommen, dass Menschen aus bestem Wissen und Gewissen zu handeln
meinen, dabei aber den berechtigten Zweifel an ihrer Sicht auf die
Dinge und Zusammenhänge verdrängen, d.h. ins Unbewusste verlagern.
Zusammen mit all der Angst vor Verlust der Kontrolle, die nicht
selten mit Todes- und Vernichtungsangst assoziiert ist.
Dabei gibt es
derzeit nur eine sichere Tatsache: wir alle schippern mehr denn je
ins Ungewisse.
Das war eigentlich
immer schon so, doch wurden Illusionen implantiert, ein klares Wissen
und somit eine Art von Kontrolle des Unkontrollierbaren zu besitzen.
Das, was am
wenigsten zu kontrollieren ist, sind jedoch Gefühle.
Und je mehr wir
versuchen diese zu kontrollieren, wegzudrücken, in den Griff zu
bekommen usw., desto mehr Macht entfalten sie in uns und suchen sich
anderweitige Kanäle und Ausdrucksformen.
In der derzeitigen
Krisensituation stimulierte Angst vor Kontrollverlust und Ohnmacht
wird also abgewehrt bis abgespalten, d.h. ins Unbewusste verlagert.
C.G. Jung hätte
vom Schatten gesprochen (vereinfacht dargestellt, denn die
Psychologie des Schattens nach Jung ist recht komplex). Vom
persönlichen Schatten und vom Schatten eines Kollektivs, in dem all
die verdrängten Schuldgefühle, Ängste, Aggressionen schlummern und
vor sich hin brodeln.
Solcherlei
Schatteninhalte dürfen auf keinen Fall ins Bewusstsein gelangen, und
es bedarf eines gewaltigen Kraftaufwandes, sie unter der Oberfläche
zu halten.
Um die
abgelehnten Gefühle weiterhin abwehren zu können, eignet sich die
Sündenbockpsychologie ganz hervorragend.
Wie das Wort schon
erahnen lässt hat sie etwas mit dem Thema Schuld und Schuldzuweisung
zu tun.
Innerhalb der
Identitätsorientierten Psychotraumatheorie wird in dem Zusammenhang
auch von Opfer-Täter-Dynamik gesprochen.
Es kommt hierbei
zur Projektion eigener abgespaltener (ins Unbewusste verbannter)
psychischer Anteile und Strukturen auf andere Menschen oder
Personengruppen, die diese abgespaltenen Anteile dem Projizierenden
gleich einem Spiegel vor Augen führen.
Durch
Verlagerung von etwas Innerem ins Äußere, können die abgewehrten
eigenen psychischen Anteile vermeintlich besser kontrolliert und in
Schach gehalten werden.
Dieses Phänomen
existiert auch in engen Beziehungen, vor allem zwischen Eltern und
Kindern sowie in anderen Liebesbeziehungen.
Es kann
beispielsweise vorkommen, dass in einer Partnerschaft, eine/einer den
kontrollierenden, vernunftbetonten Part einnimmt, während der/die
andere für den emotionaleren Part steht und Gefühle wie Angst,
Ohnmacht, Wut oder Trauer verstärkt ausagiert.
Dabei ist es ein
wechselseitiger Mechanismus der Rollenverteilung, bei dem ein Part
mehr die Täterhaltung und der andere die Seite des Opfers
repräsentiert.
Beide Seiten
projizieren eigene psychische Anteile auf den jeweils anderen
und agieren dabei ihre Gespaltenheit permanent mit- und aneinander
aus. So brauchen und missbrauchen sie den anderen, um sich nicht
bewusst werden zu müssen.
Es gibt jedoch auch
Menschen, die durch Arbeit an sich selbst, zunehmend den eigenen
Schatten beleuchten und somit unbewusste Inhalte ins Bewusstsein
holen.
Jung nannte das
Schattenarbeit.
Die
Identitätsorientierte Psychotraumatheorie nennt es Integration
eigener abgespaltener Anteile.
Dadurch wird
schrittweise ein weniger selektives Erfassen der Welt in der wir
leben möglich.
Die Komplexität und
Vielschichtigkeit der Zusammenhänge wird nicht mehr so sehr
zugunsten einer eher einseitigen Eindeutigkeit abgewehrt.
Der Blick auf die Dinge weitet sich.
In der
fundamentalen Krisenzeit, in der wir alle uns gerade befinden (und
dabei ist Corona nur ein Teilaspekt, der uns von all den anderen
komplexen Problemen in gewisser Weise ablenkt), beobachte ich, dass
sich die Mechanismen der Sündenbockpsychologie fast noch rasanter
ausbreiten als das Virus selbst.
Und der Mechanismus
der Schuldzuweisung manifestiert sich auf wirklich allen Seiten.
In Zuschreibungen
wie „Querdenker“, „Impfgegner“ oder „Corona-Leugner“
drückt sich das Konstrukt von Sündenböcken ebenso aus wie in der
Vorwurfshaltung gegenüber „Obrigkeitshörigen“ und
„Corona-Dikatur“-Anhängern.
Dabei wird das
vermeintlich „Böse“ fast wie im Mittelalter der jeweils anderen
Gruppe zugeschrieben.
Die Fronten
verhärten sich. Ein Dialog scheint dabei kaum noch möglich.
Wenn ich den anderen als Gegner
sehe, und ihn für alles Ungemach verantwortlich mache, habe ich die
Illusion von Kontrolle über Erklärung.
Ich habe dann
inmitten der Orientierungslosigkeit etwas, worauf ich mich
fokussieren kann.
Und ich fühle mich
auf der „richtigen“ Seite, weil die anderen ja zweifellos die
„Dummen“ und „Einfältigen“ sind.
Dabei schaue ich
nicht in mich hinein. Ich projiziere all meine abgewehrten
„schlimmen“ Gefühle auf ein Gegenüber, das mir dabei gleichsam
als Entlastung dient. Zugleich kann ich das, was ich in mir selbst
nicht ertragen kann, stellvertretend im Gegenüber abwehren, ja
bekämpfen.
Auf dieser Basis
kommt es zu Kriegen.
Ich bin tief
erschüttert darüber, dass wir derart miteinander verfahren, statt
miteinander zu sein und miteinander zu fühlen.
Aber es wundert
mich nicht.
„ Uns alle
übersteigt die Schattenseite der Menschheit und verdunkelt uns den
Himmel (…). Immer aber wird das Kleine vom Großen fast vernichtet
(…) Das Kleine trägt das Wunder in sich, denn es ist das
schöpferische Individuum, in dem die Menschheit ihren Gang durch die
Geschichte geht.
So bleibt das
Kleine das Größte, und eine Psychologie, welche die Individualität
gerade heute als Zentralproblem der Gemeinschaft ansieht, steht
anscheinend auf verlorenem Posten. Aber immer wieder hat es sich
herausgestellt, dass die verlorenen Posten die Punkte sind, an denen
das für die Menschheit Entscheidende geschieht“ (Erich Neumann,
Tel-Aviv, 1948)
Ultaschalluntersuchungen
legen seit einigen Jahren die Vermutung nahe, dass der noch
ungeborene Mensch im Mutterleib ein Ahnung, eine Art körperliches
„Wissen“ um eine natürliche bevorstehende Geburt hat. Er übt
sie quasi schon vorher.
Unabhängig davon
welche Komplikationen und traumatisierende manipulative Maßnahmen
bei der Geburt erfolgen, unabhängig davon, welche Katastrophen
zukünftig drohen oder tatsächlich geschehen werden – wir alle
tragen eine Ahnung von einem für uns guten Ausgang in uns.
Es ist eine
Entscheidung, sich darauf zu beziehen.
Das macht mir
dezent Hoffnung.